Was haben die Behandlung eines Kopftumors und die Suche nach subatomaren Teilchen gemeinsam? Nun, eine Menge. Die gezielte Krebsbestrahlung soll durch ein System hochempfindlicher Teilchenkameras verfeinert werden. Dieses futuristische Gerät Beam TraX ähnelt in seinem Aufbau dem System, das von Physikern am CERN verwendet wird, um die innere Struktur der grundlegenden Materieteilchen zu verstehen. Die dort verwendeten Kameras basieren auf der gleichen Technologie.
Wissenschaftler des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und des Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrums (HIT) am Universitätsklinikum Heidelberg testen nun einen Partikeldetektor der tschechischen Firma ADVACAM an ersten Patienten. Die überraschende Anwendung dieser Technologie in der Medizin könnte dazu beitragen, die Nebenwirkungen der Ionenstrahlentherapie zu begrenzen.
„Eine der fortschrittlichsten Methoden zur Behandlung von Kopf- und Halstumoren ist die Bestrahlung mit Ionenstrahlen. Diese Behandlung hat eine einzigartige Eigenschaft: Sie lässt sich genau auf die Tiefe abstimmen, in der die Partikel im menschlichen Kopf die maximale Wirkung entfalten sollten“, erklärt Mária Martišíková, InViMo-Projektleiterin aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).
Doch wie andere Bestrahlungsarten hat auch die Ionenstrahlung einen Haken. Die Partikelstrahlen wirken nicht nur auf den Tumor selbst, sondern auch auf einen winzigen Teil des gesunden Gewebes um ihn herum.
„Solch eine präventive Bestrahlung des sogenannten ‚Saumes‘ um den Tumor herum minimiert die Wahrscheinlichkeit eines Wiederauftretens der Krankheit. Sie schränkt jedoch auch die hochdosierte Bestrahlung aufgrund möglicher Nebenwirkungen wie einer Schädigung der Sehnerven oder des Gedächtnisses ein”, ergänzt Dr. Martišíková.
Im Idealfall könnte der Bestrahlungsbereich um den Tumor verkleinert und die Dosis für den Tumor erhöht werden. Die derzeitige Technologie ermöglicht jedoch keine hinreichend präzise Ausrichtung der Ionen.
Hier könnte ein neues Gerät Beam TraX des Prager Unternehmens ADVACAM Abhilfe schaffen. Die „Navigation“ der Ionenstrahlen im Kopf könnte verbessert werden, indem einige Sekundärteilchen verfolgt werden, die entstehen, wenn die Ionen den Kopf des Patienten durchdringen. Man kann es sich so vorstellen, als würde man den Staub beobachten, den ein schnell fahrendes Auto aufwirbelt.
Eine unzureichend verlässliche „Landkarte“
Ein Patient, der sich einer mehrwöchigen Ionenstrahlentherapie unterzieht, muss zunächst eine Röntgen-Computertomografie (CT) durchführen lassen. Das CT-Bild des Kopfinneren wird im Wesentlichen als „Landkarte“ verwendet, um den Tumor mit Ionenstrahlen anzuvisieren. Entsprechend dieser „Landkarte“ fährt das imaginäre „Auto“.
Doch es gibt ein Problem. Die Situation im Kopf des Patienten kann sich während der Therapie verändern. Die ursprüngliche „Landkarte“ kann vom aktuellen Zustand im Schädel abweichen. Dies könnte auf eine Gewebeschwellung, eine Tumorverkleinerung oder eine Infektion zurückzuführen sein. Bislang fehlte den Ärzten ein zuverlässiges Instrument, das sie bei einer Veränderung der Situation warnt. Somit verringert sich die Präzision der angewandten Therapie.
Zusammen mit ADVACAM haben Wissenschaftler in Deutschland nun eine vielversprechende Verbesserung entwickelt. Das Herzstück besteht aus Teilchenkameras.
„Unsere Kameras können jedes geladene Teilchen der vom Körper des Patienten ausgehenden Sekundärstrahlung registrieren. Es ist, als würde man zusehen, wie sich die Kugeln bei einem Billardstoß verteilen. Wenn die Kugeln laut CT-Bild wie erwartet abprallen, können wir sicher sein, dass wir richtig zielen. Anderenfalls ist es klar, dass die ‚Landkarte‘ nicht mehr korrekt ist. Dann muss die Behandlung neu geplant werden”, erklärt Lukáš Marek von ADVACAM.
Gesundes Gewebe wird geschont und die Präzision erhöht
Im Herbst 2023 starteten Experten in Deutschland die klinische InViMo-Studie, um das Potenzial dieses neuen Geräts auf die Probe zu stellen. Sie konzentrieren sich dabei auf Patienten mit Tumoren in der Nähe der Schädelbasis. Dieser Bereich ist aufgrund der Nähe zu wichtigen Strukturen wie dem Hirnstamm für die Bestrahlung schwer zugänglich.
„Wir hoffen, dass uns das neue Gerät zeigen wird, wie oft und wo die Tumorveränderungen auftreten. In der Regel sind es nur einige Millimeter während der Therapie. Wir sind auch an Bereichen interessiert, in denen keine Veränderungen auftreten oder diese geringer sind als angenommen. Dadurch können wir das bestrahlte Gesamtvolumen des Gewebes verringern. Gleichzeitig wird gesundes Gewebe geschont und die Nebenwirkungen der Strahlentherapie verringern sich. Wir werden auch in der Lage sein, den Tumor mit höheren Dosen zu bestrahlen. Die Dosis für das gesunde Gewebe bleibt unter einem akzeptablen Grenzwert“, ergänzt Mária Martišíková, Leiterin des Teams im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).
Das Vorhandensein von Detektoren hat keinen Einfluss auf die bestehende Therapie. Sie kann von den zusätzlich gewonnenen Informationen nur profitieren. In der ersten Phase könnten die Daten zu einer Unterbrechung und Neuplanung der Bestrahlungsserie führen, falls die Behandlung nicht nach Plan verläuft. Das ultimative Ziel ist ein System, das den Weg des Ionenstrahls in Echtzeit korrigieren kann.
Von der Teilchenphysik ins Krankenhaus
Die Technologie wird von Detektoren abgeleitet, die zum Beispiel zur Entdeckung des berühmten Higgs-Bosons am CERN beigetragen haben. Was für die Grundlagenforschung entwickelt wurde, soll nun bei der Behandlung von Krebs helfen.
„Als wir mit der Entwicklung von Pixeldetektoren für den LHC begannen, hatten wir nur ein Ziel vor Augen: jede Teilchenwechselwirkung nachzuweisen und abzubilden und so den Physikern zu helfen, die Geheimnisse der Natur bei hohen Energien zu entschlüsseln. Die Timepix-Detektoren wurden von den multidisziplinären Medipix Collaborations entwickelt, deren Ziel es war, dieselbe Technologie in neuen Bereichen anzuwenden. Viele dieser Bereiche waren zu Beginn völlig unvorhergesehen, und diese Anwendung ist ein hervorragendes Beispiel dafür”, sagt Michael Campbell, Sprecher der Medipix Collaborations.
Erfahren Sie mehr:
Von Experten begutachteter Artikel über das Verfahren in der Zeitschrift Medical Physics
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Über ADVACAM
ADVACAM bietet weltweite Innovationen in der Erforschung fortschrittlicher Bildgebungsverfahren und in der Entwicklung und Produktion von Teilchenkameras, die jedes einzelne Photon der einfallenden Strahlung erkennen und zählen können. Das 2013 gegründete Unternehmen entstand auf der Grundlage von Technologien, die in internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) entwickelt wurden. Unsere Partikelkameras werden für verschiedene Analysemethoden eingesetzt, darunter die Überwachung des Weltraumwetters, Partikelverfolgung, Röntgenbeugung, Röntgenfluoreszenz, Elektronenmikroskopie, Dosimetrie oder spektrale „Farb“-Röntgenbilder.
Kontakt:
Martin Tyburec, Head of Communications: +420 732 670 960, martin.tyburec@advacam.cz, www.advacam.com
Über CERN
CERN, das Europäische Laboratorium für Kernphysik, ist eines der weltweit führenden Laboratorien für Teilchenphysik. Die Organisation befindet sich an der französisch-schweizerischen Grenze, mit ihrem Hauptsitz in Genf. Physiker und Ingenieure am CERN nutzen die größten und komplexesten wissenschaftlichen Instrumente der Welt, um die grundlegenden Bestandteile der Materie – fundamentale Partikel – zu untersuchen. Subatomare Partikel werden nahezu mit Lichtgeschwindigkeit zum Zusammenstoß gebracht. Der Prozess gibt uns Hinweise darauf, wie die Partikel interagieren, und bietet Einblicke in die grundlegenden Gesetze der Natur.
Die Technologien, die aus den Medipix Collaborations hervorgegangen sind, sind Beispiele für einen erfolgreichen Wissenstransfer vom CERN zur Gesellschaft. Jede Zusammenarbeit hat viele kommerzielle Aktivitäten in weit auseinanderliegenden Anwendungsbereichen ausgelöst. Medizinische Bildgebung, Weltraumdosis-Messung, Bildung und Materialanalyse, um nur einige zu nennen.
Kontakt: press@cern.ch
Über InViMo
Der therapeutische Kohlenstoff-Ionenstrahl wird im Patienten allmählich langsamer und ist im Tumor am wirksamsten. Wie bei jeder anderen Form der Strahlentherapie geht auch hier eine Sekundärstrahlung vom Patienten aus. Das Ziel von InViMo besteht darin, diesen Nebeneffekt zur Überwachung des Kohlenstoff-Ionenstrahls im Patienten zu nutzen. In der InViMo-Studie wird untersucht, ob die Sekundärstrahlung Informationen liefert, die Rückschlüsse auf kleine Änderungen des Tumorvolumens während der Behandlung zulassen. Diese Studie wird vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT), dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und dem Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) am Universitätsklinikum Heidelberg unterstützt.
Kontakt:
Dr. Mária Martišíková, Deutsches Krebsforschungszentrum DKFZ
m.martisikova@dkfz.de, Website für klinische Studien von InViMo